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Die Menschen in Grönland protestieren gegen die Zwangsumsiedlung ihrer Kinder

Ole Ellekrog 12. Dezember 2024 | Politik
Proteste vor dem Inatsisartut, dem grönländischen Parlament, am 9. November. Auf dem Schild steht 'Vi er her for Zammi', - 'Wir sind hier für Zammi'. Zammi ist die Tochter der Grönländerin Keira Alexandra Kronvold, der Zammi vor kurzem in einem Verfahren in Dänemark weggenommen wurde. Foto: Pernille Benjaminsen
Proteste vor dem Inatsisartut, dem grönländischen Parlament, am 9. November. Auf dem Schild steht ‚Vi er her for Zammi‘, – ‚Wir sind hier für Zammi‘. Zammi ist die Tochter der Grönländerin Keira Alexandra Kronvold, die Zammi vor kurzem in einem Fall aus Dänemark entfernen ließ. Foto: Pernille Benjaminsen

In Fällen von Zwangsinobhutnahme von Kindern berücksichtigen die dänischen Behörden nicht ausreichend, wie kulturell unterschiedlich die Menschen in Grönland sind. Polar Journal AG sprach mit einem grönländischen Elternteil, einem Rechtsexperten und einem Protestler über dieses Thema.

Am 9. November, am 20. November und erneut am 10. Dezember gab es eine Reihe von stillen, aber entschlossenen Protesten. Sie fanden in Kopenhagen, Reykjavik, Nuuk, Ilulissat und in Städten und Siedlungen in ganz Grönland (Kalaallit Nunaat) statt.

Die Proteste richteten sich gegen den dänischen Staat und seine Tendenz, kulturelle Unterschiede in Fällen von Kindeswohlgefährdung zu übersehen, die in Dänemark lebende Grönländer betreffen. Oder wie es die Demonstranten in einer Facebook-Rolle kurz und bündig ausdrückten, während sie zu weiteren Protesten aufriefen:

„Fünf- bis sechsmal mehr Inuit-Kinder als dänische Kinder werden außerhalb des Elternhauses untergebracht. Sie werden oft in dänischen Heimen untergebracht und haben kaum Kontakt zu ihren Inuit-Eltern. Das bedeutet, dass sie ihre Kultur, ihre Sprache und ihre Identität verlieren. Dies ist ein Angriff auf die Rechte der Inuit.“

Und dass diese Praxis eine Verletzung ihrer Rechte ist, ist keine leere Behauptung. Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, José Francisco Calí Tzay, gibt ihnen Rückendeckung. In einem Bericht vom September 2023 hat er unter anderem dies gesagt:

„Informationen, die der Sonderberichterstatter aus verschiedenen Quellen erhalten hat, deuten darauf hin, dass Vorurteile gegenüber Inuit-Eltern dazu geführt haben, dass sie fälschlicherweise als kognitiv behindert eingestuft wurden.“

Die aktuellen Proteste wurden durch einen konkreten Fall aus dem Nordwesten Dänemarks ausgelöst. Aber laut Pernille Benjaminsen, einer grönländischen Mutter und Rechtsexpertin, sind sie auch das Ergebnis jahrzehntelang aufgestauter Frustration.

„Ich kenne die Frau in dem jüngsten Fall nicht persönlich. Die Proteste wurzeln nicht nur in ihrem Fall, sondern auch in einer extremen Trauer und Frustration darüber, dass wir uns unser ganzes Leben lang schlecht behandelt und diskriminiert gefühlt haben“, sagte sie gegenüber Polar Journal AG.

„Ich bin auch Mutter und der Gedanke, dass mir mein neugeborenes Kind wegen eines Missverständnisses weggenommen wird, ist herzzerreißend. Es ist unerträglich. Aber aufgrund der Erfahrungen, die viele von uns mit dem dänischen System gemacht haben, ist es leider gar nicht so unglaublich, dass so etwas passieren könnte“, sagte sie.

Die Proteste für Zammi begannen in Nuuk und Kopenhagen, weiteten sich aber später auf Städte in ganz Grönland und sogar auf Reykjavik, Island, aus, wo eine grönländische Minderheit lebt. Foto: Pernille Benjaminsen
Die Proteste für Zammi begannen in Nuuk und Kopenhagen, weiteten sich aber später auf Städte in ganz Grönland und sogar auf Reykjavik in Island aus, wo eine grönländische Minderheit lebt. Foto: Pernille Benjaminsen

Kompetenztests für die Elternschaft

Der Fall, der die jüngsten Proteste ausgelöst hat, betrifft eine Frau namens Keira Alexandra Kronvold, der ihr Kind zwei Stunden und fünfzehn Minuten nach der Geburt weggenommen wurde. Die Entscheidung wurde von der Thisted Kommune, einer Gemeinde im Nordwesten Dänemarks, getroffen und stützte sich auf einen sogenannten „Kompetenztest für Eltern“.

Mit diesen Tests wird versucht, anhand einer Reihe von Fragen zu beurteilen, ob werdende Frauen oder Paare bereit sind, Eltern zu werden. Die Tests wurden von grönländischen Aktivisten aus mehreren Gründen heftig kritisiert. Hier sind drei davon, die Pernille Benjaminsen dargelegt hat:

  1. Die Tests können für grönländische Eltern, die Dänisch nicht als Muttersprache sprechen, schwer zu verstehen sein.
  1. Die grönländische Kultur hat andere Werte, wenn es um die Kindererziehung geht. Sie verfolgt einen Ansatz, der sich mehr auf die Bedürfnisse des Kindes konzentriert. In Dänemark, so Pernille Benjaminsen, liegt der Schwerpunkt eher auf der Leistung und dem Erreichen der erwarteten Entwicklungsschritte in jedem Alter.
  1. Die Grönländer kommunizieren auf ganz andere Weise als die Dänen, und diese Unterschiede können zu Fehlinterpretationen durch die Sozialarbeiter führen, die die Tests durchführen.

Vor allem der letzte Punkt kann schwer zu vermitteln sein. Laut Pernille Benjaminsen sind sich nur wenige Dänen der Existenz dieser Unterschiede bewusst.

„Die dänische Kultur und die grönländische Kultur könnten nicht unterschiedlicher sein als sie sind. In Grönland sind wir uns dessen völlig bewusst, weil wir ständig damit konfrontiert werden. Aber in Dänemark ist man sich dessen überhaupt nicht bewusst. Sie lassen sich täuschen, weil wir Dänisch sprechen und weil wir uns im Laufe der Jahre so gut angepasst haben“, sagt sie.

Und im Fall von Keira Alexandra Kronvold scheinen solche kulturellen Unterschiede in der Tat eine wichtige Rolle gespielt zu haben. In ihrer Begründung für die Wegnahme ihres Kindes schrieb die Gemeinde:

„Keira greift auf ihren grönländischen Hintergrund zurück, wo selbst kleine Gesichtsausdrücke eine kommunikative Bedeutung haben. Da das Kind jedoch in Dänemark aufwachsen soll, wird es für Keira schwierig sein, das Kind auf die sozialen Erwartungen und Normen vorzubereiten, die es braucht, um sich in der dänischen Gesellschaft zurechtzufinden.

Die dänische Gemeinde Thisted hat Keira Alexandra Kronvold eine Stellungnahme zukommen lassen, warum ihr Kind zwei Stunden und 15 Minuten nach der Geburt entfernt wurde. Die Begründung ist inzwischen aufgetaucht und kann hier nachgelesen werden (auf Dänisch). Quelle des Bildes: Pernille Benjaminsen auf LinkedIn
Die dänische Gemeinde Thisted hat Keira Alexandra Kronvold eine Stellungnahme geschickt, warum ihr das Kind weggenommen wurde. Die Begründung ist inzwischen aufgetaucht und kann hier nachgelesen werden (auf Dänisch). Quelle: Pernille Benjaminsen auf LinkedIn

Kommunizieren ohne Worte

Um zu erklären, wie unterschiedlich die beiden Kulturen sind, erwähnt Pernille Benjaminsen die Bedeutung der nonverbalen Kommunikation. In der Kultur der Inuit zum Beispiel ist die Mimik eine wichtige Form der Kommunikation, während sie in Dänemark kaum vorhanden ist.

Wenn ein Grönländer zum Beispiel ‚Ja‘ zu etwas sagen will, hebt er eher die Augenbrauen, als dass er etwas verbal ausdrückt, und wenn er ‚Nein‘ sagen will, rümpft er die Nase.

Und wenn die Kalaallit-Inuit einander auf der Straße begegnen, nicken sie und heben die Augenbrauen, immer noch ohne Worte, und wenn jemand eine Rede oder einen Vortrag hält, sind die grönländischen Zuhörer voll dabei und signalisieren durch ihre Mimik, dass sie zuhören.

„Wenn ich vor einem dänischen Publikum spreche, habe ich das Gefühl, dass alle ein ’steinernes‘ Gesicht machen. Das macht mich nervös und lässt mich denken, dass sie überhaupt nicht interessiert sind. Erst wenn mein Vortrag zu Ende ist, kommen sie auf mich zu und sagen, dass er großartig war, und mir wird klar, dass sie tatsächlich zugehört haben“, sagte sie.

Pernille Benjaminsen kennt sowohl die dänische als auch die grönländische Kultur sehr gut. Sie ist in Grönland geboren und aufgewachsen, hat aber als Studentin mehrere Jahre in Dänemark gelebt. Außerdem ist ihre Mutter Grönländerin, aber ihr Vater ist Däne, so dass sie als Kind die Unterschiede oft aus erster Hand erfahren hat.

„Mein Vater hat oft etwas zu meinem Bruder und mir gesagt, ohne uns anzusehen. Wir haben dann mit unserem Gesichtsausdruck geantwortet, aber er hat es nicht bemerkt und sich dann geärgert, dass wir nicht geantwortet haben“, erklärt sie.

Die Proteste am 9. November. Hier ist im Hintergrund das grönländische Regierungsgebäude zu sehen. Auch die Demonstranten waren mit dem Vorgehen der Regierung in diesem Fall nicht zufrieden. Foto: Pernille Benjaminsen
Die Proteste in Nuuk am 9. November. Hier ist das grönländische Regierungsgebäude im Hintergrund zu sehen. Auch die Demonstranten waren mit dem Vorgehen der Regierung in diesem Fall nicht zufrieden. Foto: Pernille Benjaminsen

Kulturelle Missverständnisse auf politischer Ebene

In einem internationalen Kontext können kulturelle Missverständnisse wie diese charmant und unschuldig erscheinen; der Grund für freundliches Geplänkel und herzhaftes Lachen. Aber im Fall der dänisch-grönländischen Beziehungen und insbesondere der „Kompetenztests für Eltern“ können sie schwerwiegende Folgen haben.

Infolgedessen hat Grönland die dänischen Behörden aufgefordert, den Einsatz dieser Mittel in Fällen, an denen Grönländer beteiligt sind, einzustellen. Die Aufrufe erfolgten an vielen Fronten: durch Proteste und Aktivismus, durch die grönländischen Mitglieder des dänischen Parlaments und durch direkte Kontakte zwischen der dänischen und der grönländischen Regierung.

Als Reaktion darauf hat die dänische Regierung von 2023 bis 2025 7,8 Millionen DKK (etwa eine Million Euro) für die schrittweise Abschaffung der Tests bereitgestellt. Aber wie der Fall von Keira Alexandra Kronvold zeigt, werden die Tests immer noch von Sozialarbeitern in ganz Dänemark eingesetzt.

Der Grund dafür, dass die Thisted Kommune sie immer noch anwendet, ist der Mangel an alternativen Methoden, um die Kompetenz der Eltern zu ermitteln, erklärten sie im November.

Aber ein weiterer Grund dafür, dass die Abschaffung der Tests nicht reibungslos verlaufen ist, könnten kulturelle Missverständnisse auf Regierungsebene sein. Pernille Benjaminsen jedenfalls verweist auf ein aktuelles Beispiel, das zeigt, dass sich selbst Spitzenpolitiker in beiden Ländern manchmal missverstehen.

In einer Pressemitteilung der grönländischen Regierung vom 15. November gab der Minister für Kinder und Jugendliche, Aqqaluaq B. Egede, bekannt, dass er von Dänemark die Zusage erhalten habe, dass die Tests nicht mehr angewendet würden. Die dänische Sozialministerin Sophie Hæstorp Andersen kündigte jedoch etwas anderes an. Sie sagte, dass sie ‚die Gemeinden auffordert, die Tests nicht mehr zu verwenden‘; kein Verbot, sondern eine Empfehlung.

„Das lässt mich vermuten, dass die Kommunikation zwischen den beiden Ministern schief gelaufen ist. War es etwas Kulturelles, war es eine Frage der Sprache, oder gab es ein unterschiedliches Verständnis davon, was ein Versprechen bedeutet? Ich bin mir nicht sicher“, sagte Pernille Benjaminsen.

„Aber ich finde es hochinteressant, dass diese Missverständnisse sogar zwischen unseren Politikern auftreten können“, sagte sie.

Laut Pernille Benjaminsen sind die Ergebnisse das Resultat jahrelang aufgestauter Frustration. Foto: Pernille Benjaminsen
Laut Pernille Benjaminsen sind die Ergebnisse das Resultat jahrelang aufgestauter Frustration. Foto: Pernille Benjaminsen

Eine neue Reiseeinheit

Ungeachtet der politischen Missverständnisse scheint jedoch eine gemeinsame Basis gefunden worden zu sein. Als Ergebnis der Proteste könnten sich positive Veränderungen anbahnen.

Im dänischen Haushalt für 2025, der Ende November angekündigt wurde, werden die Zwangsinobhutnahmen angesprochen. Im Haushalt werden 8 Millionen DKK (etwa 1,1 Millionen Euro) für eine „Reiseeinheit“ bereitgestellt, die die Rechte der Kalaallit-Inuit in Dänemark sichern soll.

Sobald die Einheit eingerichtet ist, wird sie aus Rechtsexperten bestehen, die sich mit der grönländischen Kultur auskennen, und sie wird auf Anfrage der Gemeinden durch Dänemark reisen. Eine solche Stelle war auch Pernille Benjaminsens wichtigste Empfehlung, um das Problem der ungerechtfertigten Inobhutnahmen zu lösen.

„Es ist nicht realistisch zu erwarten, dass alle Gemeinden in Dänemark bereit sind, die grönländische Kultur zu verstehen. Ein Expertenteam wie dieses ist daher sehr sinnvoll“, sagte sie.

Mit dieser Nachricht im Hinterkopf hofft sie, dass die Zwangsinobhutnahmen ein Ende haben werden. Aber vorerst werden sie und ihre Mitstreiter weiterhin auf ihre eigene, bescheidene Art und Weise ihren Trotz und ihre Trauer zeigen. Selbst bei den Protesten ist ihr ein Unterschied zu Dänemark aufgefallen.

„Unsere Demonstrationen waren im Vergleich zu anderen Demonstrationen, die wir in den Nachrichten auf der ganzen Welt sehen, sehr ruhig, und vieles wurde sogar auf nonverbale Weise gesagt. Das sagt viel darüber aus, wer wir als Volk sind“, sagte sie.

„Ich habe bei den Demonstranten eine tiefe Trauer gespürt. Wir alle haben eine lange Liste von Erfahrungen mit kulturellen Missverständnissen, daher berührt es uns zutiefst, wenn die Missverständnisse so herzzerreißende Folgen haben“, sagte sie.

Ole Ellekrog, Polar Journal AG

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