Walpopulationen vor dem Walfang deutlich kleiner als gedacht
Die Mutationsrate von Walen zu bestimmen ist kein einfaches Vorhaben, da es schwierig ist, sie aufzuspüren und Proben zu nehmen. Foto: Julia Hager
Vor Beginn des kommerziellen Walfangs lag die Zahl der Buckelwale im Nordatlantik offenbar um 86 Prozent niedriger als bisher angenommen. Die neue Schätzung beruht auf der Neuberechnung der Mutationsrate anhand der DNA von Familiengruppen.
Die Messung der Mutationsrate ermöglicht es, Evolutionsprozesse zu verstehen und die Größe historischer Populationen zu schätzen. Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der Universität Groningen und des Center for Coastal Studies in Massachusetts, USA, hat jetzt erstmals die Stammbaum-Methode angewendet, um die Mutationsrate von Buckelwalen, Finnwalen, Blauwalen und Grönlandwalen im Nordatlantik zu berechnen. Die in der Fachzeitschrift Science veröffentlichten Ergebnisse zeigen, dass die Mutationsraten der Wale viel höher sind als die bisher anhand der weniger genauen phylogenetischen Methode ermittelten Raten und sie sind vergleichbar mit denen kleinerer Säugetiere wie Delfine, Affen oder Menschen.
Aus den neu berechneten, höheren Mutationsraten konnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf die historischen Populationsgrößen der Wale im Nordatlantik schließen. Demnach lag die Zahl der Buckelwale in der Region vor dem kommerziellen Walfang eher bei 20.000 Individuen. Die früheren Schätzungen auf Basis der phylogenetischen Methode, die sich auf Fossilfunde stützt, gingen von 150.000 Tieren aus. Die North Atlantic Marine Mammal Commission (NAMMCO) schätzt die heutige Buckelwal-Population im Nordatlantik auf etwa 35.000 Tiere.
Die neuere Stammbaum-Methode liefert wesentlich genauere Ergebnisse, weil sie auf nur sehr wenigen Annahmen beruht und sich deshalb sehr gut für den Vergleich von Mutationsraten verschiedener Arten eignet. Für die Bestimmung der Raten benötigten die Forschenden DNA-Proben von einem Elternpaar und dessen Nachkommen, um neue Mutationen bei den Nachkommen zu identifizieren.
Für die aktuelle Studie konnte das Team, das aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den Niederlanden, den USA, Grönland, Dänemark, Kanada und dem Vereinigten Königreich besteht, auf Hautproben von Walen zurückgreifen, die im Rahmen einer seit mehr als 30 Jahren bestehenden Zusammenarbeit gesammelt wurden. Aus all diesen Proben identifizierten die Forschenden Trios aus beiden Elternteilen und deren Kalb, indem sie anhand von Mikrosatelliten-Markern in der DNA genetische Fingerabdrücke der Individuen erstellten. «Ich habe die Mikrosatelliten-Daten gesichtet, um Individuen zu finden, die als Mutter und Kalb verwandt sind. Anschließend habe ich in der Datenbank nach möglichen Vätern gesucht», erklärt Marcos Suárez-Menéndez, Forscher an der Universität Groningen und Erstautor der Studie, in einer Pressemeldung der Universität.
Suárez-Menéndez gelang es so, 212 Eltern-Nachkommen-Trios bei den vier verschiedenen Walarten zu identifizieren. Die Forschenden sequenzierten das Genom von acht der Trios und schätzten daraufhin die Zahl der neuen Mutationen im Kalb sowie die durchschnittliche Mutationsrate bei den Walen. «Und genau wie beim Menschen gehen die meisten neuen Mutationen vom Vater aus. In dieser Hinsicht sind uns die Wale also sehr ähnlich», so Suárez-Menéndez.
Darüberhinaus analysierte das Team auch DNA aus den Mitochondrien der Mütter: «Unsere Studie ergab, dass die Mutationsrate in der mitochondrialen DNA der Wale ebenfalls viel höher ist als frühere Schätzungen auf der Grundlage der phylogenetischen Methode», erklärt Suárez-Menéndez weiter.
Neben der wichtigen Erkenntnis, dass es anhand der Stammbaum-Methode möglich ist, die Mutationsrate auch bei Wildtier-Populationen zu bestimmen — bisher wurde sie nur bei wenigen wildlebenden Tieren und Zootieren angewandt —, ist insbesondere die neue Schätzung der Zahl der Buckelwale im Nordatlantik von Bedeutung. Diese Information trägt vor allem dazu bei, den Zustand der Ozeane vor dem Walfang besser zu verstehen.
Julia Hager, PolarJournal